Schritt für Schritt rückt das ersehnte Pilger-Ziel, Santiago de Compostela, immer näher. Endlich angekommen: am Plaza del Obradoiro vor der imposanten Kathedrale.
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Über die nächsten vier Tage bis Santiago gibt es nur wenig Berichtenswertes. In verschiedenen Internet- Beiträgen für die Vorbereitung meiner Reise hatte ich die Empfehlung gelesen, diesen letzten Abschnitt ab Sarria zu meiden und eine andere Reiseroute zu wählen. Denn nur wer die letzten 100 Kilometer ab Sarria (oder von woanders her) durch Stempel in seinem Pilgerausweis nachweisen kann, erhält die begehrte „Compostella“-Urkunde. Folglich ist dieser Wegabschnitt immer sehr überlaufen. Mein Pilgerreiseführer gab mir folgenden Ratschlag: ab Sarria mit der Eisenbahn nach Ourense oder Ferrol zu fahren, um von dort die letzten Kilometer auf einem weniger kommerzialisierten Weg zu wandern. Ich hatte mit diesem Gedanken auch eine Weile gespielt, ihn dann aber doch verworfen. Letztendlich mache ich diesen Weg FÜR MICH und nicht für irgendeine Urkunde! Die „Compostella“ ist ein nettes Andenken für mich, mehr aber auch nicht. Einen Weg zu gehen, um ihn aus irgendwelchen Gründen abzubrechen und dann von woanders fortzusetzen – das kam mir doch recht absonderlich vor. Nun gut, wenn der Weg überfüllt ist – ich selber bin ja auch Teil dieser Überfüllung und sollte mich folglich nicht über die, sich zwangsläufig entwickelnde, Kommerzialisierung ereifern.
In Barbadelo gibt’s morgens in der Früh kein Frühstück, nur einen Kaffee aus dem Automaten. Das muss dann vorhalten, bis ich im Laufe des Vormittags im kleinen Dorf Morgade endlich eine Bar finde, wo ich meinen bohrenden Hunger stillen kann.
Es sind seit Barbadelo immer mehr Pilger unterwegs, zeitweise fühlt man sich wie beim Volkswandertag in Berlin oder Hamburg.
Vormittags wandert man im Nebel oder Dunst, der sich aber meistens gegen 10:30 Uhr innerhalb weniger Minuten auflöst und strahlenden Sonnenschein durchlässt.
Der Weg führt durch kleine Dörfer, manchmal entlang einer Durchgangsstraße, dann wieder abseits zwischen Feldern und Wiesen – gut ausgeschildert, aber wenig spektakulär. Unterwegs dann wieder Pilger-Landart und Pilgerkitsch in allen Variationen.
Gegen Mittag erreiche ich den Flussübergang des Miño vor Portomarin. Ende der fünfziger Jahre wurde in einiger Entfernung ein Staudamm gebaut und die Stadt komplett auf dem Abhang neu errichtet, die Kirche Stein für Stein umgesetzt, das man an den markierten Steinen noch erkennen kann.
Als ich die Brücke erreiche, ist der Wasserstand extrem niedrig und folglich sind Reste der alten Siedlung und zwei Brücken zu sehen.
Der Ort selber liegt in verwitterter Beton-Architektur hoch auf dem jenseitigen Ufer. In die Innenstadt hinauf führt eine breite Treppe. Gerade vor mir müht sich ein russisches Pärchen mit ihren Fahrrädern hinauf. Am Hinterrad ist das wichtigste Reise-Utensil festgeschnallt: der Wasserkessel für die Teezubereitung.
Ich finde einen Schlafplatz in der Herberge „Manuel“ (einer meiner Schüler heißt so). Später, als ich mit einigen Pilgern auf der Plaza etwas zu Abend esse, erfahre ich, dass viele Pilger heute kein Quartier mehr bekommen hatten und sich teure Privatzimmer mieten mussten. In vielen Herbergen hatte ich immer wieder Prospekte und Reklame von „jacotrans“ gesehen: Rucksacktransport für 7,00 € pro Gepäckstück und Etappe von Herberge zu Herberge. Hier, in Portomarin, gibt es einen Gepäcktransport für nur 3,50 €. Einen Moment lang werde ich auch schwach, aber wirklich nur einen ganz kleinen Moment – dann ist für mich klar, dass ich meinen Weg nach Santiago MIT Gepäck fortsetzen werde. Am nächsten Morgen, noch bei Dunkelheit, wälzt sich ein Strom von Pilgern aus dem Ort heraus in den Wald. Noch ist es dunkel und neblig, aber pünktlich gegen 10:30 Uhr verzieht sich der Nebel innerhalb weniger Minuten.
Das Städtchen Palas de Rei erreiche ich in der größten Mittagshitze und flüchte gleich wieder. Ich habe mich in der Herberge von St. Xulian, fünf Kilometer außerhalb der Stadt, angemeldet. Außerhalb der Stadt treffe ich auf eine riesige Autobahnbaustelle, auf der allerdings nicht gearbeitet wird. Aber auch hier gibt es eine gute Wegbezeichnung und einen extra eingerichteten Weg für die Pilger mitten hindurch. Die Herberge dort liegt in einem kleinen malerischen Dorf und ist mit 12 € für die Übernachtung die Teuerste auf dem ganzen Weg; dafür ist das warme Abendmenü vorzüglich. Jetzt ist auch der Zeitpunkt gekommen, wo ich meine nächsten Reiseschritte plane. Mit Hilfe von Mobiltelefon und WLAN nehme ich Kontakt auf mit meinem Titanic-Reisebüro in Berlin. Ab hier lässt sich die Reise gut kalkulieren so dass ich meinen Zug zurück nach Deutschland buchen kann – 14 Tage im Voraus. Schon während ich noch in den Bergen unterwegs gewesen war, war in mir der Entschluss gereift, meine Reise nicht in Santiago zu beenden, sondern noch die 90 Kilometer bis zum Kap Finisterre zu wandern. Dorthin, wo die Welt dann wirklich zu Ende ist (der westlichste Punkt von Spanien) und wo auch der CAMINO am Kilometer 0,0 endet. Wie gut, dass ich mich nicht schon im Voraus für die Rückreise festgelegt hatte…
Am nächsten Tag treffe ich wieder auf Paul und in Melide gönnen wir beide uns mal was Besonderes, nämlich „pulpo“ – gekochte Krake, gewürzt mit Salz und Pfeffer. Die Konsistenz ist ähnlich elastisch wie Tintenfischringe oder Krabben und schmeckt uns außerordentlich gut.
Wir gehen an diesem Tag noch eine ganze Weile miteinander, aber dann sind Pauls Kräfte erschöpft und er beschließt in Boente zu bleiben. Aber die Herberge liegt an der Hauptverkehrsstraße – und das kann mich nun gar nicht locken. Also wandere ich noch weiter, verlasse die Straße und erreiche an einem kleinen Fluss die malerisch gelegene öffentliche Herberge von Ribadiso. Etliche Steinbauten liegen direkt am Flussufer und einige Pilger sind schon dabei, sich zu erfrischen und abzukühlen, eine Pilgerin hat sich einen Kunststoffstuhl mitten in das kühle Nass gestellt.
Auch der nächste Tag bringt nicht viel Neues, außer ein paar stimmungsvollen Ausblicken bei Nebel und einem sehr netten Pilgerstopp bei Heidi und Rolf, wo ich mich einige Zeit aufhalte.
Wunderschöne Blumen sind unterwegs zu beobachten.
Pedrouzo ist die letzte wirkliche Übernachtung vor Santiago. Es ist ein großes Dorf an einer fürchterlich lauten Durchgangsstraße mit sehr viel LKW-Verkehr. Ich finde schließlich eine Herberge etwas abseits. Aber es sind Unmengen von Pilgern unterwegs, davon viele in Gruppen. Man kennt sich nicht mehr und ich fühle mich recht verloren unter den vielen Menschen. Ich streife durch den Ort und finde auch den alten Ortskern, der recht verborgen liegt für den normalen Durchreisenden.
Heute nun liegt die letzte Etappe vor mir. Ich komme an dem Platz vorbei, an dem früher die Pilger sich noch einmal gereinigt hatten, bevor sie endlich in Santiago ihr Ziel erreichten.
Und wer bitte hat da seine Schuhe denn so hoch gehängt?
Eigentlich hatte ich mir das so schön ausgemalt: noch einmal am Monte Gozzo, fünf Kilometer außerhalb von Santiago zu übernachten und dann mit einigen Mitpilgern gemeinsam nach Santiago zu wandern und den Einzug nach Santiago zu feiern. Aber es kommt ganz anders… Auf dem Monte Gozzo ist es voll und laut.

Von hier aus beginne ich nun Santiago für mich zu entdecken. Am Durchgang zum großen Kathedralenplatz steht ein Dudelsackspieler. Und dann stehe ich endlich auf dem großen Plaza del Obradoiro vor der gewaltigen Kathedrale, deren Hauptfassade leider eingerüstet ist. Aber es ist schon ein bewegender Moment, als ich die Kathedrale in Santiago betrete: es ist Donnerstag, der 1. Oktober. 775 Kilometer in fünfeinhalb Wochen bin ich gewandert.
Als erstes erkunde ich die Kathedrale von innen. Wenn ich alleine in der Kathedrale bin, ohne Gruppe, dann kann man sich der Geistigkeit dieses Ortes am ehesten nahe fühlen. Ich habe Glück, der Besuch der Jakobsfigur im Kircheninneren gelingt mir ohne langes Warten, einen Moment kann ich dort ganz alleine und ungestört verweilen.
Dank meiner Tippgeber finde ich in Santiago eine sehr günstige Möglichkeit abends eine warme Mahlzeit zu bekommen für 50 Cent, abseits der ausgetretenen Pilgerpfade: es ist die Armenküche von Santiago. Unversehens finde ich mich gemeinsam mit den Mühseligen und Beladenen an großen langen Tischen meine Mahlzeit verzehren und fühle mich sehr wohl dabei. Ich streife abends noch durch die Gassen von Santiago und lande irgendwann später wieder auf dem großen Platz vor der Kathedrale.
Und hier endlich, finde ich das, was ich als Musiker auf der ganzen Reise doch sehr vermisst hatte: Musik. Unter den Arkaden gegenüber der Kathedrale spielt jeden Abend ab ca. 22:00 Uhr die Tuna de Derecho de Santiago. Tunagruppen, so finde ich später im Internet, gibt es in vielen spanischen Universitätsstädten. Es sind hier in Santiago Musiker der juristischen Fakultät, die in ihren mittelalterlich anmutenden Gewändern genauso aussehen, wie sie vor Jahrhunderten als arme Studenten für ihr täglich Brot gespielt haben.
Immer mehr Pilger und Touristen strömen unter den Arkaden zusammen und es herrscht eine ausgelassenen Stimmung, viele der spanischen Lieder scheinen allgemein bekannt zu sein und werden begeistert mitgesungen. Zwei Stunden geht das so, auch ein Dudelsack kommt noch zum Einsatz. Erst um Mitternacht finde ich wieder in mein Einzelzimmer. Irgendwann merke ich, dass dieses Quartier auch so seine „Besonderheiten“ hat. Von den drei vorhandenen Toiletten lässt sich tatsächlich nur eine einwandfrei benutzen. Ungefähr gegen 3:00 Uhr morgens falle ich vor lauter Krach fast aus dem Bett. Meine geöffnete Balkontür geht nach der Rückseite des Hauses auf eine parallele Gasse und diese Gasse ist die Zulieferstraße für die direkt benachbarten Markthallen von Santiago. Der Zulieferverkehr beginnt jeden morgen um 3:00 Uhr direkt unter meinem Fenster. Da kann ich nur rasch die Fenster schließen.

Deshalb machte ich mich erst am nächsten Morgen zum Pilgerbüro auf, gleich als die Schalter geöffnet wurden um 8:00 Uhr. Und richtig, in einer knappen halben Stunde war ich fertig und im Besitz zweier Urkunden.
Nach meinem zweiten Frühstück schaue ich mal in die Wetternachrichten. Was ich da sehe, macht überhaupt keine Freude. Heute, am Freitag 2. Oktober, ist es schönes Wetter. Morgen, Samstag, auch. Aber Sonntag – so lese ich da – wird es richtig schrecklich: den ganzen Tag nur starker Dauerregen! Und Montag genauso. Deshalb beschließe ich meine Ausruhzeit in Santiago zu verkürzen und morgen, am Sonnabend schon nach Finisterre aufzubrechen. Weil ich auf meiner Rückreise nach Deutschland noch einen Abstecher nach Barcelona machen möchte, besuche ich die kleine Agentur der spanischen Eisenbahnen RENFE, direkt neben dem Pilgerbüro. Zwischen den beiden großen Städten Santiago und Barcelona verkehren täglich zwei (!!) Züge. Aber beide Verbindungen am kommenden Freitag sind ausgebucht, also reserviere ich für den einzigen Zug am Samstag in acht Tagen eine Bahnfahrkarte nach Barcelona. Den Rest des nachmittags verbringe ich damit, meine Reise ans „Ende der Welt“ zu planen. 90 Kilometer sind es bis dorthin. Ich besorge mir bei der Touristeninformation ein Faltblatt über die Herbergen dort. Aber wie ich es auch drehe und wende, die 90 Kilometer lassen sich nur aufteilen in 20-20-20-30 – wenn man es in vier Tagen schaffen will. Auf den letzten 30 Kilometern gibt es auf einer Strecke von 20 Kilometern keine einzige Herberge. Am Abend treffe ich wieder Paul in einer Gaststätte mit einigen anderen Pilgern. Zusammen besuchen wir noch einmal die Tuna-Musiker unter den Arkaden.
Wir verabreden uns am kommenden Morgen zu einem Abschiedsfrühstück. Paul wird mich die ersten Kilometer aus Santiago heraus begleiten.








































































