outdoorer Kunde Joachim Lentz bewältigt im 5. Teil seiner Pilgergeschichte die Strecke León bis Astorga. Begleite ihn lesend auf dieser Etappe.
Alle Teile des Camino-Erfahrungsberichts haben wir übersichtlich und praktisch in einem E-Book zusammengefasst – einfach deine E-Mail-Adresse eintragen und wir senden dir den Pilgerguide zum Schmökern und Inspirieren-lassen zu. Wenn auch dich dann das Camino-Fieber packt, begleitet dich das Jakobsweg-E-Book kostenlos ab dem 1. Schritt – und mit einem anschließenden gratis Vorbereitungskurs via E-Mail darüber hinaus.
Dem einsetzenden Starkregen war ich zwar entkommen, aber feucht bin ich trotzdem geworden. Bei der Frühwanderung nach León hatte ich meinen Leichtponcho übergezogen. So hatte mir der gelegentliche Regen nichts anhaben können, aber dafür bin ich komplett durchgeschwitzt von innen her. Also muss alles in die Wäsche. Mit einer Mitbewohnerin aus Lettland, die den schönen Namen „Lolita“ führt, teile ich mir Waschmaschine und Trockner. Sie übernimmt das Einlegen und ich kann derweil schon in die Stadt gehen. Für den Stadtgang habe ich nur noch ein T-Shirt und meine dünne Regenjacke. Das ist für die kühlen Temperaturen viel zu wenig und ich fange an zu frösteln. Also muss ich mir als erstes einen Pullover kaufen. Meinen Reservepulli hatte ich ja im Paket nach Santiago vorausgeschickt…
Drei großartige Bauten bleiben mir von León in besonderer Erinnerung. Da ist als erstes die gewaltige Kathedrale von León im gotischen Baustil – viel klarer gegliedert als die Kirche in Burgos – mit wunderschönen farbigen Fenstern und einem herrlich geschnitzten Chorgestühl.
Nicht weit entfernt davon liegt als zweites die romanische Basilika „San Isidor“ mit den gut erhaltenen Deckenmalereien aus dem 12. Jahrhundert ─ vor allem sehr eindrücklich die Darstellungen des bethlehemitischen Kindermordes. Als Besonderheit gilt in dieser Kirche der prächtige Kelch der Donna Urraca aus dem 11. Jahrhundert. Aber fotografieren ist in San Isidor eigentlich nicht erlaubt…
→ Tipp: Bei der Kathedrale gibt es einen Audioguide auf Deutsch. Bei „San Isidor“ unbedingt vor dem Kauf einer Eintrittskarte nach einer englischen oder deutschen Führung fragen, sonst ist alles nur auf Spanisch.
Als drittes bewundere ich in León das Kloster San Marco (bereits am CAMINO stadtauswärts gelegen) aus der Zeit der Renaissance. Ich betrete den großen Gebäudekomplex durch die Kirche; vielleicht ist das gar nicht der offizielle Eingang? Jedenfalls kann ich ganz alleine und ungestört durch die Kirche und den Kreuzgang wandeln. „San Marco“ diente Mitte der dreißiger Jahre als Konzentrationslager der schlimmsten Sorte. Die Gedenktafeln dazu lassen mich stille werden…
Am Kalender habe ich mir ausgezählt, dass es mit meinem postlagernden Paket und der Aufbewahrungszeit in Santiago knapp werden könnte. Also gehe ich in León auf die Hauptpost. Die Dame am Schalter nimmt meine Quittung, tippt meine Sendungsnummer in ihren Computer ein und eröffnet mir, dass gerade HEUTE mein Paket ─ weil noch nicht abgeholt ─ nach Deutschland zurückgeschickt worden sei. Ich bin verblüfft und wütend. Eine Dame aus der Warteschlange hört meine Empörung, will mir helfen, aber an der Tatsache lässt sich scheinbar nun nichts mehr ändern. Sie stellt sich mir vor als Belgierin, die schon seit 20 Jahren hier lebe. „Was glauben Sie“, sagt sie zu mir, „als ich hier ankam vor 20 Jahren, da war alles noch viel schlimmer… Hier ist schon der Anfang von Afrika…“. Nun ja, das ist eine schöne Erklärung, aber es hilft mir im Moment auch nicht weiter. In dem Paket ist mein stabiler Regenponcho, und ein zweiter warmer Pullover. Beides hätte ich jetzt bitter nötig! In den folgenden Wochen erkundige ich mich immer wieder zu Hause in Lübeck, ob da denn mein Paket schon angekommen sei. Aber es scheint spurlos verschwunden zu sein…
Am Nachmittag streife ich durch die Altstadt von León und freue mich an kleinen Besonderheiten, die es lohnen, fotografisch festgehalten zu werden.
Die deutsche Bauaufsicht hätte sicherlich ihre Freude an einem solchen Anblick… An wackelnden Gehwegplatten, frei hängenden Elektroleitungen von Haus zu Haus und löchrigen Brückengeländern über reißende Flüsse scheint sich hier niemand zu stören… Am nächsten Morgen verlasse ich León. Etliche Pilger, die ich hier getroffen habe, treffe ich nun bis Santiago immer wieder. Da ist Paul, gebürtiger Engländer und jetzt Reiseführer am Ayers Rock (Australien), da ist Guillermo mit seinem Onkel (Hispano-Amerikaner aus Kalifornien) und immer wieder Martina aus Süddeutschland.
Als ich die Außenbezirke von León erreiche, packt mich der Ärger über mich selber: noch immer habe ich an meinem Outdoorer Rucksack Tour Bag 50 kein Zeichen meiner Pilgerschaft. Die große Jakobsmuschel zum Anbinden (siehe erstes Foto im 1. Teil des Reiseberichtes) habe ich absichtlich zu Hause gelassen. Die war mir zu groß und zu klobig. Meine Aufnäher mit der stilisierten Muschel, die ich mir gekauft hatte, sind eigentlich zu klein für den Rucksack und damit würde ich den Rucksack auch beschädigen. Jaja… gar nicht so leicht, da etwas anzubringen… Ich betrete ein Schreibwarengeschäft und mit Hilfe meines kleinen Aufnähers erkläre ich mein Anliegen. Wir probieren alle Arten von Stiften und Schreibern aus, aber keiner haftet oder trägt genügend Farbe auf. Also muss ich es mit Klebestreifen versuchen. In einer nahe gelegenen Ferretería (= Eisenwarenhandlung) gibt es farbiges Klebeband zu kaufen. Quer auf dem Ladenboden schneide ich mir die Klebestreifen zu, klebe sie auf und erwerbe auch noch selbstklebende Folie zum Abdecken. Die sehr liebenswürdigen Ladenbesitzer ertragen meine Bastelarbeiten mit viel Hilfsbereitschaft… und dann endlich zeigt auch mein Rucksack das Pilgerzeichen deutlich sichtbar – individuell und unverwechselbar!
Im nächsten Ort, in La Virgen del Camino, teilt sich der Weg. Deutliche gelbe Pfeile auf der Teerpiste weisen in zwei verschiedene Richtungen: geradeaus, immer an der Nationalstraße entlang und 3,5 km kürzer oder links ab über Nebenstraßen und kleinere Dörfer, dafür etwas länger. Für mich gibt es keine lange Überlegung die längere und einsamere Strecke zu wählen. Sehr erstaunt bin ich über die Pilger vor und hinter mir, die alle an der großen Straße weiter entlang laufen – wieder mit dem Argument des bereits gebuchten Rückfluges… Naja – unter Pilgern stelle ich mir halt etwas anderes vor… Links abgebogen lasse ich den Straßenlärm bald hinter mir und bin zunächst völlig allein.
Im übernächsten Dorf empfängt mich wieder ein Pilgerstopp mit „donativo“ (auf Spendenbasis). Ich genieße die angebotenen Erfrischungen. Ich treffe auf Stefan aus dem Saarland, aber der möchte nach der Rast gerne alleine weiterwandern.
Als ich die Anhöhe erklommen habe, führt der Weg über eine schöne einsame Hochfläche. Jetzt endlich habe ich entdeckt, um wie viel besser es sich geht, wenn ich meine Schritte lieber auf den schmalen Sandstreifen neben der Teerdecke setze.
Nach einem Dorf mit einem Brunnen, von wo aus wir zu dritt weiterwandern, erreichen wir Villar de Mazarife. Gleich am Ortseingang liegt verlockend direkt an der Dorfstraße die Herberge San Antonio de Padua. Ich zögere, ob ich hier bleiben soll. Die Entfernung León – Astorga beträgt 50 km. Entweder man wandert 20 km + 30 km oder aber 30 km + 20 km. Dazwischen gibt es nichts. Jetzt habe ich 20 km hinter mir. Die nächste Herberge in Villavante liegt 10 km entfernt. Während ich noch überlege, setze ich meinen Rucksack ab. Doch, oh Schreck! An meinem Rucksack hängt nur noch EINE Sandale – die andere scheint abgefallen zu sein. Meine Vernunft sagt mir, hier zu bleiben… aber muss man als Pilger immer vernünftig sein? Irgendwie reizt es mich, noch weiter zu wandern, auf auch die Gefahr hin, dass ich meinen verlorene Sandalen nie wiederbekomme. Es ist schon halb vier Uhr nachmittags, als ich erneut aufbreche. Der Weg führt jetzt entlang einer kaum befahrenen Teerstraße, die sich nach 5 km in eine Schotterpiste verwandelt, schnurgerade auf die Leóner Berge zu, ohne einem Menschen zu begegnen. Je weiter ich wandere, desto intensiver wird das Zusammenspiel von Wolken und Sonne. Es ist schon früher Abend, als ich in Villavante in die Herberge komme, wo mich gleich Coco (der Herbergspapagei) mit „Buenas tardes!“ empfängt. Zügig gehe ich zum Duschen. Da bekomme ich den nächsten Schreck: unter meinem Blasenpflaster, dass ich mir vorbeugend über die Ferse geklebt hatte, hat sich eine dicke Blase gebildet. Ich reiße das Blasenpflaster ab, die Wunde ist ganz offen. Dann duschen und Wäsche waschen. Im Schatten ist es schon sehr kühl, so dass ich meine Wäsche zum Trocknen in der Sonne auf einem Stuhl auf der Dorfstraße ausbreite.
Eigentlich müsste ich am nächsten Morgen mit meiner Blase am Fuß zum Arzt gehen, aber hier mitten in der Landschaft gibt es sowas nicht. Also klebe ich mir nochmal ein Blasenpflaster auf die offene Wunde und ziehe meine Strümpfe wieder darüber. Weil mir der Preis von 4,50 € für das Herbergsfrühstück einfach zu teuer ist, wandere ich mit leerem Magen los. Am Anfang zwickt meine Blase im Stiefel noch und ich humpele etwas, aber allmählich gewöhne ich mich daran. Nach ca. 2 km überquere ich die Bahnlinie. Nein, da gibt es keinen Bahnübergang. Warum auch, wenn sowieso fast nie ein Zug vorbeikommt. Stattdessen hat man die Schienen einfach quer über den Weg gebaut… so geht’s auch.In Hospital de Órbigo treffe ich wieder auf den Hauptweg des CAMINO und überquere eine langgestreckte Brücke noch aus der Römerzeit. Am Ende der Brücke gibt es eine Bar. Aber der einzige Tisch draußen in der Sonne ist mit einer lärmenden Pilgergruppe belegt und im Schatten ist es eindeutig zu kühl. Also wandere ich noch weiter und muss nochmal eine Stunde aushalten, bis ich schließlich an einer Bar mit angeschlossenem kleinen Hotel mein erstes Frühstück haben kann. Wenig später kommt aus dem Hotel eine Gruppe mit Englisch sprechenden Gästen, ausgerüstet mit kleinen Tagesrucksäcken. Laut schwatzend sammeln sie sich, um dann kurz danach einen kleinen Reisebus zu besteigen, mit dem sie punktgenau an die schönsten Etappen des CAMINO chauffiert werden. Einen Moment lang (aber wirklich nur einen kurzen Moment lang!) steigt Groll in mir auf über diese „Komfort-Pilger“ – aber dann besinne ich mich auf meine eigene Reise und meine eigenen Anliegen. Andere Formen des Reisens als die meinigen zu beurteilen, das steht mir sicherlich nicht zu.
Hinter Santibañez gibt es einen breiten Fahrweg bergan, aber keinerlei Wegbezeichnung mehr. Aber alle Abzweigungen scheinen nur immer auf das nächste Grundstück zu führen. Sich hier zu verlaufen ist sicherlich keine Freude… und das bei dieser Hitze. Kein Mensch ist zu sehen, aber dafür fahren schwere Kipplaster mit einer riesigen Staubwolke hin und her. Der Weg führt bergauf und bergab. Als ich auf die letzte Höhe vor Astorga komme, erwartet mich wieder eine Überraschung: ein großes „Bienvenudo“-Schild und der Pilgerstopp von David. Mir wird erzählt, dass er ein ehemaliger Manager aus Barcelona ist, der komplett aus allem ausgestiegen ist und hier einen Pilgerstopp betreibt. Sogar übernachten kann man hier in einem halboffenen Unterstand fast unter freiem Himmel. Später höre ich, dass David wohl mit dem gespendeten Geld der Pilger das ganze Grundstück kaufen konnte, um darauf eine richtige Herberge aufzubauen. Ich genieße die Riesenauswahl an Getränken und Gebäck und raste dort eine ganze Zeit lang.
Dann endlich liegt mir zu Füßen Astorga vor mir. Jeder Pilger nimmt hier nochmal einen tiefen Schluck, bevor er die letzten beschwerlichen Kilometer in Angriff nimmt.
Nach dem langen Abstieg geht es ein längeres Stück auf Astorga zu, dann muss ich noch eine Bahntrasse auf einer ewig langen Fußgängerbrücke überqueren bevor ich zur Altstadt von Astorga wieder aufsteige. Gleich in der ersten städtischen Herberge finde ich einen Bettplatz. Ein Rot-Kreuz-Zeichen veranlasst mich, um medizinische Hilfe zu bitten wegen meiner Blase. Am Empfang bittet man mich, dafür am Abend wieder zu kommen, denn der Kollege, der abends Dienst hat, der könne mich auch ärztlich versorgen.
Am Nachmittag möchte ich mir die Stadt anschauen. Weil ich nun aber mein Blasenpflaster endgültig entfernt habe, kann ich meine Wanderstiefel nicht mehr benutzen. Von meinen Sandalen ist nur noch einer übrig. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als in Badelatschen loszuziehen. Als erstes suche ich einen Laden für Pilger-/Wanderausrüstung und -bedarf. Ein kundiger Schweizer verkauft mir ein paar Trekkingsandalen. Auch er kennt die negativen Erfahrungen, die andere Pilger mit Combed-Blasenpflaster gemacht haben.
→ Tipp: Combed-Blasenpflaster, dass überall gerne für Pilger verkauft wird, ist NICHT geeignet für längere Beanspruchung wie Wanderungen!!
Der Bischofspalast von Astorga, von dem legendären Architekten Gaudi erbaut, ist eindrucksvoll, aber nicht unbedingt mein Geschmack – vor allem nicht durch die neugotische Gestaltung des Inneren.
Die Kirche gleich nebenan und das dazugehörige Museum mit den Trachten, und dem kirchlichen Schmuck (wie z.B. Bischofsmitren und Hirtenstäben) gefallen mir da schon wesentlich besser.
Am Abend finde ich mich rechtzeitig wieder in der Herberge ein. Der Hospitalero nimmt sich die Zeit, um mich zu verarzten. Er wirft einen kurzen Blick auf meine Wunde, die inzwischen die Größe einer 2 €-Münze erreicht hat. Dann winkt er mir, ihm zu folgen. Hinter einer Tür mit einem Roten Kreuz verbirgt sich ein komplettes Ambulatorium. Meine Wunde scheint ihn nicht besonders zu beeindrucken. Routiniert dreht er mich in die richtige Lage. Er trägt eine Wundsalbe auf. Danach schneidet er einen dicken Filz zurecht und mitten hinein ein Loch von der Größe meiner Wunde. Dann wickelt er eine Mullbinde um den kompletten Fuß. Der Filz außen um die Wunde herum verhindert ein Ankleben der Binde. Zum Schluss zieht er meinen Strumpf wieder drüber. Ich frage etwas besorgt, wie viele Tage ich denn jetzt Pause machen müsse. Er lacht nur kurz und sagt: „Put on your boots and get off!“ (= „Zieh deine Stiefel an und dann geht’s weiter!“).