„Zwei und Eins“ durchs einsame Nomadenland Changthang – Reisebericht

Es ist immer wieder unfassbar spannend, die Geschichten von Horst Hattinger und seinen abenteuerlichen Reisen zu lesen. Letztes Jahr erkundete er gemeinsam mit seiner Wegbegleiterin Maria Feldmann die Weiten des Himalayas. Inzwischen Nomaden und Schafherden machten sie dabei einige beeindruckende Begegnungen. Mit im Gepäck war natürlich unser ultraleichtes Trekkingzelt Trek Escape!

Wege zu beschreiten durch Landschaften, in denen man Wildnis vorfindet und doch auch Menschen ist gar nicht so einfach. Entweder es ist eine stark kultivierte Landschaft und die Wildnis beschränkt sich auf die unwirtlichen Gegenden, oder es sind eben stark erschlossene Naturlandschaften, wo meist offensichtlich der Mensch bereits mehr oder weniger intensiv regulierend eingegriffen hat. Gerade wir im Alpenraum sind es fast gewöhnt, uns in stark vom Menschen veränderten Regionen aufzuhalten. Skieldorados und Funparks, Klettersteige und Hochgebirgshotels, Fichtenmonokulturen und Staudämme. Manch einer bekommt es mit der Angst zu tun, während er höher steigt und plötzlich seit vielen Tagen wieder einmal Stille erlebt, alsbald die letzten Auto- und Motorradgeräusche verstummen.

Der Mensch hat sich die letzten 100 Jahre und vor allem die letzten paar davon eklatant von seiner Anbindung an die Natur gelöst. Fragt man heute jemanden, wie das Wetter ist, so greift er in die Hosentasche und zückt sein Smartphone. Eine Tour zu machen ohne eine „Susi“, die einem anhand von GPS-Daten den Weg vorgibt, ist für die meisten kaum noch denkbar. Selbst ausgesprochen naturbegeisterte Kräuterexperten bestimmen heute selbstverständlich im „Schnellverfahren“ durch eine wunderbare App jede Pflanze am Wegesrand. Schnell muss es gehen. Schnell zum Ziel durch ultraleichte Ski und das nicht der Lust am Erleben der Schnelligkeit wegen, sondern mehr als kollektive Mode. Ja, sogar die Kinderrassel wird ersetzt durch eine grell leuchtende Kinder-App, sodass man schon bald darauf konditioniert wird, seine Umgebung durch die „Augen eines Gerätes“ zu betrachten, welches mir sodann auch vorgibt, wie ich mich verhalten soll, was ich denken darf, wohin ich gehen kann, was ich anziehen muss und unendlich so weiter. Stetig und quasi überall wird zwischen Menschen und Natur eine Maschine geschalten und kaum jemand fragt sich je, ob der Einsatz denn überhaupt notwendig sei oder vielleicht sogar kontraproduktiv. Maschinen haben ihre Berechtigung als Werkzeuge, sie sollen Hilfsmittel sein und uns dabei unterstützen, Tätigkeiten leichter ausführen zu können oder auch einfach an Wissen zu kommen. Mehr aber schon auch nicht. Niemand würde freiwillig immer und überall einen Stabmixer einsetzen, auch dann, wenn man ihn gar nicht braucht. Zu sehr haben wir vergessen, dass das meiste bzw. das „wahre“ Wissen bereits in uns angelegt ist. Kollektives Wissen aus vielen Vorgenerationen bis zurück zu den Ursprüngen der Menschheit ist gespeichert. Doch wer vertraut heute schon seinem Impuls mehr als einer Wetter-App? Kann man überhaupt noch Zugreifen auf dieses Wissen oder ist es schon zu tief vergraben in uns?

Bevor ich jedoch an dieser Stelle allzu sehr abdrifte und manch ein Leser sich nun fragt, was diese Einleitung mit einer Tour durch die weiten des Himalayas zu tun haben soll, bewegen wir uns geistig in die Grenzregion zwischen Indien und Tibet (China).

Eine Landschaft wie diese zu erleben, wo der Mensch vielfach noch Teil des Ganzen ist, also nicht der „Regent“, aber auch nicht wie in der Antarktis mehr oder weniger komplett fehlend als „Spezies“, empfinde ich als eine der wunderbarsten Erfahrungen, die ich auf meinen lehrreichen Wegen erleben und erfahren durfte, denn es öffnet einem wieder ein Tor zur Einfachheit, zum „ist ja alles bereits da“.
Die vielfältige und doch oft karge Gegend aus eigener Kraft zu durchqueren, ist etwas absolut Einzigartiges und bedarf viel (altem) Wissen. Eine Unternehmung wie diese ist in jedem Fall kein mit philosophischen Gedankenspielen gespickter genüsslicher Genusspaziergang. Will man wirklich eintauchen in diese Gebirgslandschaft und daraus sich als Mensch auch weiterentwickeln, muss man damit rechnen, zeitweise körperlich und geistig an seine Grenzen zu kommen. Der Sauerstoffmangel der Höhe wirkt an sich schon auf Körper und Geist. Ist man zudem ohne Führer auf eigenen Pfaden unterwegs, teils wie in unserem Fall sogar weglos, so sind in dieser Höhe auch Fehlentscheidungen schnell einmal lebensbedrohlich. Wer beispielsweise schon einmal ein Gewitter in den Bergen erlebt hat weiß, wie schnell das gehen kann. Wir haben auch dieses Mal auf knapp 5000 m wieder eine derartige Erfahrung machen dürfen. Soeben noch schweißtreibende Sonne, schon eisiger Schneefall und nur eine kleine Felswand bot uns etwas an „Scheinsicherheit.“

Derartige Lehrstunden der Natur kann man auch in unserer Region erfahren, man muss dazu sicher nicht in den Himalaya. Manches (vor allem wenn es um Mensch/Natur geht), ist jedoch bei uns schon sehr versteckt zu finden. Man kann jedoch beobachten, dass sich auch dort sehr vieles ändert. Auch an dieser Stelle könnte man ausholen und beispielsweise Zusammenhänge zwischen verloren gegangenem Naturwissen hier im Alpenraum (auch, wenn es seit einigen Jahren diesbezüglich bei uns wieder eine Rückbesinnungswelle gibt) und dem, was dort aktuell passiert, herstellen. Zudem ist es so, dass zum Beispiel die indische Regierung Ziegenherden für die berühmte Paschminawolle in das Changthang entsendet, dadurch in das Ökosystem eingreift und die Jahrhunderte alte Lebensweise der dortigen Nomaden und Bauern einschränkt dabei ist noch nicht zu reden von der Überpräsenz an Militär durch die Grenze (die niemand wirklich kennt und mehr ein mehrere Kilometer breiter Grenzstreifen ist als das, was wir so als Staatsgrenze kennen) zu Tibet (China).

Dennoch diese (vermeintliche) Ödnis, diese Höhe, diese Unmengen an Gletschern und Berggipfel, diese raue Natur lässt es einfach (noch) nicht zu, dass dort Chaletdörfer und Hochgebirgshotellerieanlagen gebaut werden. Es gibt keine Traktoren, die über die Äcker fegen. Dort, wo der Mensch nicht bereits verschwunden ist, muss er mit der Landschaft arbeiten und mit der Natur im Einklang sein. Nun würde ich mich selbst doch noch eher als einen sehr mit der Natur lebenden europäischen Menschen bezeichnen. Ich kenne die Gegend um mich, für die Erkennung von Pflanzen verwende ich immer noch kein Smartphone, um den richtigen Weg zu finden, verwende ich immer noch kein GPS-Gerät und finde trotzdem überall (manchmal auch nicht, aber dann sollte es vielleicht auch so sein) hin. Ich nütze die Medien nur sehr bewusst, um mich zu ergänzen (dieses Wort passt eigentlich nicht, denn auf einer bestimmten Ebene gibt es nichts zu ergänzen), nicht um mich neu zu erfinden und trotz allem habe ich auch auf diesem Weg durch diese tibetische Hochgebirgslandschaft meine „Lehrstunden“ erhalten. Ich nenne mich dann manchmal „degenerierter Westler“ und wundere mich, wie schnell man trotz „Topmaterial“ maximal an seine, vor allem geistige Grenze, kommt. Nicht selten erinnere ich mich dann auch an einen amerikanischen Weltklassepaddler, mit dem ich eine Schlucht im Himalaya erstbefuhr, als selbiger allein durch die Einsamkeit und Höhe maximal an seine mentale Leistungsfähigkeit kam.

Warum „Zwei und Eins“?

In der Überschrift habe ich ein kleines Rätsel verpackt und ich möchte es nicht auflösen. Manch einer weiß, was gemeint ist, andere können in den Hinweisen Notwendiges erkennen und ansonsten ist es vielleicht auch nicht wichtig.

Lange hat es gedauert, bis ich nun wieder einmal einen Artikel verfasse. Hubert von Goisern meinte einmal, dass er sich schwertat bei der Aufnahme zu seinem Trad Album, auf denen er alte Volkslieder vertonte. Diese Lieder leben und eine CD habe so etwas Endgültiges, meinte er. Ähnlich ergeht es mir oft beim Musik machen und auch beim Verfassen eines Berichtes. Ist die Reise mit dem vermeintlichen Ende der Reise überhaupt zu Ende, nur weil man aus dem Flugzeug aussteigt? Manchmal kann man Erlebtes erst viel später richtig erfassen oder verstehen. In unserem Fall ist es auch die Tatsache, dass gerade das verlockendste Thema, darüber zu berichten und es zu veröffentlichen, das Sensibelste ist. Ja, es war ein besonderer Schritt auch für meine Partnerin und Wegbegleiterin Maria Feldmann, vor allem auch am Rückerinnerungsprozess zur Wiederentdeckung ihrer weiblichen Kraft. Es ließen sich Seiten füllen und das Ganze würde allein schon durch Ehrliches berichten und ohne etwas ausschmücken zu müssen, heldenhaft sein. Klar ist es in Zeiten von „Daumen hoch“ und „geiern nach Klicks“ vermeintlich schade es nicht „auszuschlachten“. Aber doch mache ich zumindest jetzt erst einmal einen großen Bogen herum. Vielleicht nimmt sich Maria einmal dem Thema selbst an und schreibt einen Bestseller darüber. Ich denke, viele würden ihre Erfahrungen gerne lesen wollen.

Nicht zuletzt war es auch ein ladakhischer Filmemacher und Regisseur Stanzin Dorjai Gya (bekannt durch viele Dokumentationen, unter anderem „Die Hirtin aus Ladakh“), der mich inspirierte. Er war Teil eines Filmteams, das ich im selben Jahr als Kajakfahrer am Zanskar begleiten durfte. Man brauchte einen erfahrenen Mann für die Sicherheit am Fluss auf der 90 km langen Schlucht, die man mit Raftingbooten durchpaddelte, um Filmaufnahmen zu machen. Eines Tages wurde in einem versteckten Seitental gefilmt und ich saß mit ihm gemeinsam in einer uralten Stupa (eine Art Kapelle), um die Dreharbeiten nicht zu stören. In dieser Zeit schilderte er mir, wie er seine Schwester 2 Jahre mit ihrer Schafherde begleitete und dabei unter anderem Aufnahmen von Schneeleopardenangriffen filmte. Die Verantwortlichen bei Arte staunten dann sehr, als er ihnen verkündigte, dass er diese „Actionaufnahmen“ nicht in der Dokumentation brauche. Die Dokumentation „Die Hirtin aus Ladakh“ wurde dennoch ein Welterfolg ohne Action und auch ganz ohne Filmmusik, die er auch kurzerhand einfach wegließ. Für diejenigen, die derartige Artikel immer durch die rosa Sonnenbrille lesen, sei festgestellt: Nein, ein Weg dieser Art ist nicht immer eben und rosig und eine Beziehung, die kein Reiben kennt, lebt nicht. Dennoch war es in unserem Fall sicher nicht zufällig so: In Leh, der Hauptstadt von Ladakh war es hektisch, laut und wir hatten noch einiges an Konflikten. Changthang fernab in Teils wirklich unangenehmen Situationen, kaltem Wetter, Wassermangel, wilde Tiere und einsame Nomadenzelte gab kein ernst zu nehmender Stress zwischen Mann und Frau zurück in Leh in der Zivilisation, die klassische Beziehungskonflikte starten. Männliche und weibliche Kraft wissen im reduzierten Raum anscheinend gut zu kooperieren.

Was also als Höhepunkt verschriftlichen?

Nun, was sollten wir also veröffentlichen? Etwas, das man nicht alle Tage liest und das die ganz sensiblen Themen (mit denen heute im Netz recht unsensibel umgegangen wird) ausgrenzt. Auch wenn es arrogant klingt, wir könnten ein Buch mit Geschichten und Erfahrungsberichten füllen. Ich entschied mich über ein Tier zu berichten – Wild Yak (Gruntzochse), Schneeleopard, Wolf, Steinbock, Kiang (Wildesel)? Nein: Hund! Genau genommen Hirtenhunde!

Die Geschichte zeigt, wie auch wir an unsere Grenzen dessen kamen, was ich oft nenne, nicht verwurzelt zu sein. Und plötzlich steht der ach so gebildete Europäer mit Sack und Pack da und muss erst einmal durchatmen, um zu wissen, wie er sich nun zu verhalten hat. Denn er weiß, dass er es weiß, sonst müsste er heimfahren oder sich in eine geführte Touristengruppe begeben. Aber alleine durch Changthang ohne sich bewusst sein, dass man sich verlassen kann auf sich und den Partner, wäre in vielen Fällen Selbstmord. Die folgenden 14 Stunden spielen sich im indischen Teil des Changthang Gebietes auf einer nomadischen Sommerweide bzw. einem Passübergang ab. Die Landschaft ist auf über 5000 m dünn bewachsen und ist bei Sonnenschein unheimlich schön, bei einem hereinziehendem Wetter kann es schnell zu einem Inferno werden. Ich verzichte bewusst auf eine detaillierte geographische Angabe. Es ist ein kurzer Auszug eines beachtlichen Weges, den Maria und ich durch diese Gegend zurückgelegt haben, was nebenbei bemerkt gar nicht selbstverständlich ist, da es immer wieder Jahre gibt, in denen man gerade für diese Region an der tibetisch indischen Grenze kein Permit erhält. Dieses Jahr haben wir Glück und können mit einem 4-wöchigen Permit uns etwas Zeit nehmen, durch das Land der Changpa zu ziehen.

Mensch gib acht, du bist hier nur Gast!

Ungern kriechen wir aus den Schlafsäcken und noch hat der Tag nicht wirklich begonnen. Es fühlt sich an, als wäre es mitten in der Nacht. Die Paschminaziegen neben uns sind eng zusammengepfercht in ihrem aus Steinmäuerchen gebauten Zaun und sind noch wenig zu hören. Dunkle Wolken ziehen nicht gerade motivierend über die 6000 m hohen Gipfel um uns. Wir packen unsere Schlafsäcke, Zelt und Matten und der Hirte, vor dessen Zelt wir nächtigten kommt, um uns zu warmem Tee zu bitten. Gerne hätte er uns mit seiner Frau ein paar Tage als Gäste hier gehabt, doch es ziehen so gut wie alle Nomaden und Hirten des indischen Teils des Changthangs heute ins Tal, um dort einen hohen Lama aus Nepal zu hören.

Alleine hierzubleiben vor den Zelten der Einheimischen wäre zu gefährlich, denn die Hunde werden zurückgelassen. Aus diesem Grund haben wir bereits am Vorabend beschlossen, über den nächsten Pass, der uns bis 5400 m führt, zu gehen. Den Besuch des hohen Geistlichen lässt sich kaum jemand entgehen, nur ganz wenige Hirten bleiben hier im Hochbecken, an den beiden türkis schimmernden steppenartigen Seen. Wir genießen also den warmen Tee und die Wärme und Behaglichkeit im Zelt am offenem Feuer und die Gastfreundschaft. Es ist immer wie ein kleiner, sehr emotionaler Moment, wenn man dem Gastgeber, die so wenig Materielles besitzen und dennoch alles so herzlich teilen, die Hand zum Abschied schüttelt und dann den schweren Rucksack auflegt und hinausgeht, ins doch recht Ungewisse. Keine Wegemarkierung weist den Weg, kein Weg weist den Weg. Die Richtung in etwa aus der besten Karte über diese Region hat man ja im Kopf und dann schreitet man los.

Wir sehen ein Nomadenzelt in etwa einer Stunde Entfernung, auf das wir zugehen. Schon bald hören wir den Hund, der wahrscheinlich auch dort das Zelt bewacht, lautstark bellen. Mein Gefühl sagt mir, dass wir so lange in Sicherheit vor ihm sind, als wir nicht die Grenze überschreiten. Das gelingt uns ganz gut und dennoch lässt einem nicht nur die Höhe den Puls ansteigen, sondern auch das wilde Gekläffe. Ich bin nun viele Jahre hier unterwegs, die sesshaften Bauern habe jedoch weniger Hunde um ihre Häuschen. Die Nomaden haben klarerweise Hunde und das sind keine Kuscheltiere. Eine Schaf-/Ziegenherde zieht mit ihrem Hirten unweit von uns einen Hang entlang und ich weiß natürlich nicht, wohin sie aufgebrochen sind. Wenn man sie beobachtet, meint man, sie wären langsam, doch sie sind schneller, als man denkt. Sollten wir in die Nähe einer Herde kommen, müssen wir acht geben bzw. notfalls die schweren Rucksäcke liegen lassen und schauen, dass wir so schnell wie möglich auf einen sicheren Felsen kommen, „ohne zu laufen“, sage ich zu Maria. Es sind meist nur ein, maximal zwei Hirten dabei und die haben keine Chance, einen Hund zurückzurufen, der seine Schäfchen verteidigt. Ich hatte da schon einmal großes Glück, als ich in eine Herde kam und nichts ahnend plötzlich von einem „Schaf“ angefallen wurde, das natürlich ein Hund war, den ich jedoch zuerst nicht erkannte.

In diesem Moment, als ich das Maria gesagt habe, drehe ich mich intuitiv um und hinter uns, etwa 100 m schauen zwei wolfsähnliche Hunde über eine Kuppe. Sie sind die Vorhut jener großen Herde, die eben noch so weit weggezogen ist. Ein kurzes Schimpfwort über diese gefährliche Situation und ein extrem strenges Kommando „Rucksack liegen lassen, Stecken mitnehmen, mir nach und ab in die Felsen dort oben! Mach dir keine Sorgen, ich mach sie fertig mit den Stecken! Wir dürfen ihnen niemals den Rücken zeigen, sollten sie kommen!“, sage ich noch, als wüsste ich das alles genau, aber zum Zögern und Zweifeln ist man hier falsch. Wir klettern schnurstracks in steiles Gelände und finden einen recht sicher wirkenden Platz in einer Felsnische und beobachten, wie weiter unten nun die Ziegen-/Schafmeute unseren Rucksäcken entgegen zieht. Wäre es nicht so eine angespannte Situation, so ist es schon wunderbar, diese Tiere im Einklang mit der Landschaft und dem Gelände sich vorwärts bewegen zu sehen. Gemütlich hinten nach zwei Hirten, die etwa 4 Hunde um die Herde. Die zwei Prachtkerle, die vorneweg stürmen, bleiben an unseren Rucksäcken stehen und schauen stolz und klar zu uns hoch. Keinen Schritt würde ich ihnen freiwillig noch näher kommen, die Distanz von etwa 80 m im felsigen Gelände reicht jedoch aus, um unseren Puls nicht noch höher zu treiben. Irgendwie scheinen die Hunde nervös zu sein, wir sehen, wie 3 von ihnen sich gegenseitig zähnefletschend in die Haare kommen. Gänsehaut; brrrr…. Nicht mal die Hirten können sie zum friedlichen Miteinander überzeugen und erst als ein großer Stein in das Hundegerangel fliegt, gehen sie auseinander. Im Anschluss positioniert sich wieder einer mit Blick zu uns. „Schleich dich doch“ sage ich mehrmals halbstark vor mich hin, als die Herde bereits über die nächste Kuppe wandert und er immer noch zu uns herauf schaut. Dann endlich trottet er ihnen nach, dreht nach ein paar Metern wieder um und blickt erneut in unsere Richtung. Nach gefühlt einer Stunde können wir wieder zu unseren Rucksäcken und einen Satz, den ich in diesen Gegenden oft sage, kommt mir über die Lippen. „Wir sind ja wirklich klassisch degenerierte Europäer auf lässig mit Goretexzeig in diesen Regionen herum steigen und dann rechnen wir nicht mir dieser Gefahr“. Da ungewiss ist, wohin und wie weit die Herde zieht und vor allem wir ja nicht wissen, wann sie länger an einem Platz verweilen, müssen wir nach jeder unübersichtlichen Kuppe achtsam sein. Gleich bei der ersten unsicheren Stelle gehe ich mit zwei großen Steinen voraus und schaue, ob der Weg frei ist. Wir haben Glück, die Herde ist bereits etwas weiter, aber zieht immer noch in unsere geplante Richtung.

Ich bin schon viele Pässe gegangen, aber dieser ist wieder etwas ganz Besonderes. Zum Einen leitet er in eine der unwirtlichsten Regionen Indiens, nur noch ein Militärposten ist in 2 Tagesmärschen Entfernung direkt an der tibetischen Grenze (es gibt jedoch dort keinen Übergang) an menschlicher Dauerbesiedlung vorhanden und zum anderen habe ich noch nie erlebt, wie es ist, wenn man mit Herden gleichzeitig zieht und was dabei für Gefahren lauern. Nach einer weiteren Stunde sehen wir den Pass und genau davor unsere vier und zweibeinigen Freunde. Wenn sie dort nun lagern, müssen wir abwarten. Auch sie dürften die Höhe spüren, denn sie werden langsamer und wir kommen wieder näher, was uns nicht gefällt. „Setzen wir uns dort wieder in sicherer Distanz nieder und schauen, was sie vorhaben“, sage ich genervt. Manchmal wünsche ich in solchen Situationen, ich würde einfach eine geführte Tour machen oder ertappe mich sogar, dass ich denke, lass das doch alles und fahr ans Meer und häng dort einfach nur mal ab. Ich gebe zu, diese Gedanken sind nicht von langer Dauer, auch wenn man sich derartige Tage zwar als Erfahrung wünscht, jedoch eigentlich froh ist, wenn sie einfach nur gut vorüber gehen. Es ist kein Fehler erlaubt. Punkt und aus. Keine Rettung, keine Notarzt, eine Hundeattacke dieser Hirtenhunde würde man jedoch wahrscheinlich ohnedies nicht überleben. Aber man hat es selbst in der Hand, man darf einfach die Grenzen nicht überschreiten.

Was passiert, wenn man ihnen nicht ausweicht, das dürfen wir in genau diesem Moment aus doch sicherer Entfernung beobachten und lässt uns beide vor Ehrfurcht erstarren. Die Meute zieht endlich in eine Senke links von unserem Aufstieg und es schaut aus, als verlassen sie die Passrichtung. Dort weidet gerade ein Wildesel. Ein Hund nähert sich dem großen, stolzen Tier. Tibetische Wildesel sind eigentlich Wildpferde und sind sehr verwegene Tiere. Ich habe sie schon oft beobachtet auf meinen Wegen im Himalaya und sie scheinen auch vorm Menschen keine große Angst zu haben. Auch unser „Freund“ stellt sich dem Hirtenhund, der seiner Herde den Weg freimachen will. Beim Schreiben dieser Zeilen kribbelt es mir richtig, wenn ich an diesen Moment denke. Diese Urgewalt, eine Schnittstelle zwischen KultUR und NatUR. Ist das noch ein domestiziertes Tier dieser Hirtenhund oder verlässt er nun sein Einsatzgebiet? Der Mensch, der hier einfach so in der Natur eingebettet ist, kann kaum mehr lenken und wir schon gar nicht mehr. Wir staunen nur, wie lange der Esel erstarrt Widerstand leistet und nicht von der Stelle weicht, bis der Hund wie aus dem Nichts startet und eine unbeschreibliche Verfolgungsjagd unternimmt. Er hetzt den Esel viele Meter, bis er aus den nötigen Abstand zur Herde hat. Der Wildesel schlägt viele Haken und hinter ihm zieht sich eine ziemliche Staubwolke. Mehrmals sieht es aus, als hätte ihn der Hund bereits geschnappt. Ein Naturkulturschauspiel der höchsten Kategorie, das uns erstarren und Demut aufkommen lässt.

Nach dieser Verfolgungsjagd bleibt der Hund stehen, patroliert einige Minuten und der Esel beginnt bereits wenige Sekunden später zu fressen. Unvorstellbar diese Kraft und diese Klarheit beider Tiere, während die Hirten von diesem Ereignis, das bei ihnen Berufsalltag scheint, quasi unbeeindruckt bleiben. Für uns ist es ein Moment der absoluten Demut und Dankbarkeit, dass unsere doch so große „Konsumnaivität“, uns da bis jetzt noch keine Erfahrungen dieser Art hat machen lassen und ich auf all meinen (oftmals Solo)Pfaden und auch auf unseren gemeinsamen Wegen durch Nomadenlandschaften dem Hundethema immer gekonnt ausgewichen bin. Vielleicht sind es doch natürliche Verhaltensweisen, auf die selbst der „so weit entfremdete“ Konsumeuropäer bauen kann, wenn es in derartigen Gegenden schließlich ums „Eingemachte“ geht und keine App der Welt einem da das richtige Verhalten hochladen kann. Den meisten würde ich es nicht empfehlen, dort oben sich allein zu bewegen. Und kein Schneeleopard oder Wolf wird dort gefährlicher sein als ein Hirtenhund, der bei Fehlverhalten schnell zum absoluten Wolf wird. Das kann man nicht in einem Onlinekurs studieren und auch nicht auf einem GPS-Gerät als Warnung angezeigt bekommen. Nach gefühlten Stunden ziehen wir auf die Passhöhe und das Donnerwetter, das sich an den Südabhängen des 6200 m hohen Lungser Kangri zusammenbraut, sorgt uns nach alldem kaum. Irgendwann im Abstieg vom Pass beginnt es zu hageln. Wir setzen uns unter meinen Poncho zusammen und versuchen uns zu wärmen bzw. nicht völlig zu durchnässen. Als es nachlässt, wandern wir tiefer.

Ich bin an diesem Abend ziemlich ausgemergelt und kann kaum mehr klar denken. Meine Kraft ist zu Ende und ich spüre, wie ich all meine Aufmerksamkeit und Energie für heute verschossen habe. Maria kann dann oft recht gut kompensieren in derartigen Momenten und auch diesmal hat sie es wunderbar ausgeglichen. Dann kommt es mir so vor, dass auf meine Klarheit und Zielgerichtetheit, für die ich bekannt und gefürchtet bin, Unsicherheit folgt, Momente des Zögerns, des Fragens. Als ich an diesem Abend beim Abwasch im dämmernden Abendlicht am Bach noch durch wildestes Schnaufen und Grunzen aufspringe vor Schreck, ist der Tag endgültig zu einem filmfüllenden Ereignis geworden. Im Stress renne ich Richtung Zelt und denke dort attackiert ein wildes Tier, vielleicht Maria. Doch dann sehe ich, wie in wenigen Metern Entfernung zwei männliche Wildesel in einen Kampf verwickelt sind. Es ist Paarungszeit und diese Burschen interessieren sich kaum für unser Zelt. So wichtig bin ich also doch nicht, denke ich und gehe zum Zelt. Während sich das letzte mal an diesem Tag mein Puls senkt, weiß ich eines ganz sicher: „Für heute reicht es und Morgen lasse ich Morgen sein…“

In jedem Fall war es das noch nicht gewesen mit Hirtenhunden bei dieser Tour, denn 3 Tage später haben wir plötzlich einen vierbeinigen Begleiter vor dem Zelt sitzen und kurze Zeit später sogar zwei, die uns dann über mehrere Tage begleiten. Aber das ist eine andere Geschichte.

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